Ein Artikel von: Mahbouba Gharbi und Dr. Carola Lilienthal

Erschienen auf: https://www.isaqb.org/de/isaqb-blog/

Einleitung

Seit ca. fünfzehn Jahren lässt sich in der IT ein neuer Trend beobachten: Wir dürfen nicht mehr nur lebenslang lernen, sondern wir können Zertifikate dafür erwerben, dass wir unser Wissen erweitert haben. Zwei Worte in diesem letzten Satz sollten interessierte Leser:innen aufhorchen lassen: „erwerben“ und „Wissen“.

Für ein Zertifikat muss Geld bezahlt werden! Deshalb wollen wir uns als erstes die Frage stellen, ob man ein Zertifikat kaufen kann, ohne dass man sein Wissen substanziell erweitert hat. Wie sind die Zertifizierungsverfahren organisiert, um einen solchen Missbrauch zu verhindern?

Als zweites wenden wir uns der Frage zu, was Zertifikate prüfen bzw. prüfen können: theoretisches Wissen – also alles, was man aus Büchern lernen kann – oder echte praktische Erfahrung, die über die Jahre wächst und sich verändert. Sollten Zertifikate vielleicht sogar ein Verfallsdatum haben? Gibt es Zertifikate, die prüfen, ob ich mein einmal zertifiziertes Wissen und meine Erfahrung beibehalte oder erweitere? Mit welchen Versprechen werden Zertifikate beworben und was ist von diesen Versprechen zu halten?

Zertifizierungsverfahren

Das Angebot an Zertifikaten ist vielfältig, trotzdem liegt den meisten Zertifikaten und Zertifizierungsverfahren ein ähnlicher Prozess mit einigen vergleichbaren Varianten zugrunde. In Abbildung 1 ist das grundsätzliche Muster für Zertifizierungsverfahren dargestellt.

Will ein Schulungsanbieter zu einem Zertifikat eine Schulung anbieten, so muss er zuerst überprüfen, ob er in der Lage ist, die im Lehrplan enthaltenen Themen zu vermitteln (Schritt 1 in Abbildung 1). Ist dies der Fall, so muss sich der Schulungsanbieter von dem für dieses Zertifikat zuständigen Board lizensieren lassen (Schritt 2). Mit dem entsprechenden Lizenzvertrag stellt das Board sicher, dass der Schulungsanbieter den Lehrplan des Boards umsetzt und seine Schulungsunterlagen ggf. durch das Board qualitätssichern lässt. Ist man als zukünftiger Prüfling auf der Suche nach einem Schulungsanbieter für ein Zertifikat, so sollte man stets kontrollieren, ob der Schulungsanbieter die entsprechende Lizenz tatsächlich besitzt.

Hat der Prüfling den für sich passenden Schulungsanbieter gefunden, so meldet er sich dort für die entsprechende Schulung an und entrichtet die Schulungsgebühr (Schritt 3+4). Möchte der Prüfling die Prüfung direkt im Anschluss an die Schulung machen, so meldet ihn der Schulungsanbieter kurz vor oder auch während der Schulung bei einer Zertifizierungsstelle für die Prüfung an (Schritt 5). Zertifizierungsstellen werden vom für das Zertifikat zuständigen Board für die Prüfung autorisiert. Der Pool von Fragen, aus dem die Zertifizierungsstelle jeweils die Prüfungsbögen zusammenstellt, wird von dem gleichen unabhängigen Board ausgearbeitet, das auch den Lehrplan für die Schulung festgelegt hat.

Die meisten Schulungen sind so organisiert, dass im Anschluss an eine mehrtägige Schulung (Schritt 6) direkt die Prüfung abgelegt werden kann. Dazu wird von der Zertifizierungsstelle eine unabhängige fachfremde Prüferin oder ein unabhängiger fachfremder Prüfer bestellt, die oder der die Prüfung vor Ort durchführt. Die Prüfung wird von einer fachfremden Prüferin bzw. einem fachfremden Prüfer abgenommen, damit auf jeden Fall verhindert wird, dass den Prüflingen bei der Prüfung geholfen werden kann.

Die Zertifizierungsstelle erhält für diese Dienstleistung vom Prüfling eine Prüfungsgebühr (Schritt 7). Der oder die Prüfer:in lässt die Prüflinge einen Multiple-Choice-Test ausfüllen (Schritt 9) – entweder digital oder in Papierform. Die Tests in Papierform hat er bzw. sie von der zuständigen Zertifizierungsstelle bekommen (Schritt 8). Im Anschluss an die Prüfung werden die digitalen Tests direkt von der Zertifizierungsstelle ausgewertet (Schritt 11) und das Ergebnis bekannt gegeben (Schritt 12). Falls Prüfungsbögen in Papierform verwendet werden, schickt der oder die Prüfer:in die ausgefüllten Prüfungsbögen zurück an die Zertifizierungsstelle (Schritt 10). Dort werden die Antworten ausgewertet und die Anzahl der richtigen Antworten festgestellt (Schritt 11). Im Anschluss wird der Prüfling per E‑Mail über das Ergebnis informiert. Hat der Prüfling genug richtige Antworten gegeben, erhält er sein Zertifikat (Schritt 13).

Abbildung 1: Zertifizierungsverfahren aus Sicht des Prüflings [DST]

Dieser auf den ersten Blick für den Prüfling relativ komplizierte Prozess wurde geschaffen, um der in der Einleitung präsentierten Gefahr entgegenzuwirken, dass man Zertifikate einfach kaufen kann.

Gute Zertifikate zeichnen sich dadurch aus, dass die Definition der Inhalte, die Schulung und die Prüfung von verschiedenen voneinander unabhängigen Institutionen verantwortet werden (s. Abbildung 2).

Abbildung 2: Aufgabenteilung [DST]

Zu diesem vollumfänglichen Zertifizierungsverfahren gibt es verschiedene Varianten für einzelne Teilprozesse:

  1. Vorbereitung ohne Schulung (s. Abbildung 3)
  2. Remote-Prüfung (s. Abbildung 4)
  3. Öffentliche Prüfung
  4. Prüfung im Testcenter

Will ein Prüfling ohne eine Vorbereitung durch einen Schulungsanbieter die Prüfung für ein Zertifikat ablegen, so ist die Prüfungsgebühr bei den meisten Zertifikaten etwas höher (Schritt 5 in Abbildung 3). Zu den meisten Zertifikaten werden Bücher angeboten, die das Selbststudium erleichtern (Schritt 6 in Abbildung 3).

Abbildung 3: Vorbereitung ohne Schulung [DST]

Für die Prüfung hat der Prüfling die drei oben aufgeführten Alternativen.

Seit der Coronapandemie werden viele Schulungen remote und damit ortsunabhängig angeboten, sodass eine Remote-Prüfung der logische Schritt ist. Deshalb wird inzwischen bei vielen Zertifikaten eine Remote-Prüfung angeboten. Die Prüfung wird vom Prüfling remote durchgeführt und von einem oder einer Prüfer:in überwacht, der bzw. die sich auf den Rechner des Prüflings aufschaltet und ihn mit der Kamera beobachtet. So entfällt für alle Beteiligten die Notwendigkeit zu reisen. Verfahren, bei denen die Online-Prüfung ohne Aufsicht abgelegt werden kann, laden im Gegensatz dazu zum Missbrauch ein.

Abbildung 4: Remote-Prüfung [DST]

Außerdem gibt es bei einigen Zertifizierungsverfahren die Möglichkeit, dass der Prüfling eine öffentliche Prüfung oder ein Testcenter besucht, wo er seine Prüfung unter persönlicher Aufsicht ablegt.

Für unsere erste Frage stellen wir also zusammenfassend fest: Bei Verfahren, die dem hier vorgestellten Ablauf mit einer Trennung der Verantwortlichkeiten folgen und bei denen die Prüfung unter Aufsicht abgelegt wird, ist sichergestellt, dass man das Zertifikat nicht kaufen kann.

Wissen oder Erfahrung?

Was ist aber mit dem zweiten Thema? Was überprüfen Zertifikate? Theoretisches Wissen oder praktische Erfahrung? Nun, diese Frage hängt tatsächlich von der Art des Zertifikats ab!

Alle Zertifikate, die lediglich aus einem Multiple-Choice-Test bestehen, fragen nur theoretisches Wissen ab. Natürlich versuchen die Boards Prüfungsfragen zu ersinnen, die nur mit praktischer Erfahrung zu beantworten sind, aber im Multiple-Choice-Schema ist das sehr schwierig.

Die Zertifikate, die in diese Kategorie fallen, haben in der Regel den Zusatz „Foundation Level“. Der Foundation Level wird von den Anbietern ausdrücklich als Basis-Zertifikat beworben [FGG10]. Der Prüfling beherrscht anschließend die Grundbegriffe eines Gebiets. Diese Grundbegriffe kann man lernen und sich ihren Sinn erklären lassen. Nach der Prüfung bzw. der Schulung spricht der Prüfling die Sprache dieses Gebiets.

Die Zertifikate, die auf dem „Foundation Level“ aufbauen, gehen in der Regel über einen reinen Multiple-Choice-Test hinaus. Diese Zertifikate tragen oft den Zusatz „Advanced Level“, manchmal auch „Professional“ oder „Master“. Für diese weiterführenden Zertifikate muss man auf irgendeine Weise praktische Erfahrung nachweisen.

Bei einigen Zertifikaten muss man Testimonials von Arbeitgebern für Projekte vorweisen, die zum Thema des Zertifikats passen: z. B. 18 Monate Testaufgaben in Projekten oder 18 Monate Projektleitung bzw. Teilprojektleitung.

Bei einigen anderen weiterführenden Zertifikaten gehört zur Prüfungsleistung zusätzlich zum Multiple-Choice-Test eine mündliche Prüfung. In manchen Fällen wird außerdem keine Schulung im herkömmlichen Sinne abgehalten, sondern es wird versucht, eine Art Projektsituation zu simulieren, in der die Teilnehmenden im jeweiligen Gebiet zusammenarbeiten.

Dann haben einige Zertifikate noch die unangenehme Eigenschaft, dass sie regelmäßig alle drei oder fünf Jahre erneuert werden müssen. Entweder muss die Prüfung erneut durchgeführt werden oder die Prüflinge müssen Credit Points sammeln, die bestimmte Aktivitäten im zertifizierten Bereich nachweisen: Konferenzbesuche, Vorträge, Vorlesungen, Artikelveröffentlichungen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Erfahrung der Prüflinge nicht veraltet.

Was die Frage nach dem Wissen und den Erfahrungen angeht, so halten wir fest: das Basiszertifikat, der Foundation Level, entspricht einer theoretischen Führerscheinprüfung. Die Theorie, also die Begriffsbildung und die Regeln, werden beherrscht, praktische Erfahrung liegt aber nicht vor. Insofern sollte man die Basiszertifikate immer als das betrachten, was sie sind: Theoretisches Wissen, das man erwerben muss, um die Aufbauzertifikate ablegen zu können.

Fazit

Falls Sie nach einer Weiterbildung mit Zertifikat suchen, so planen Sie je nach Ihrem aktuellen Wissensstand ein Basiszertifikat und entsprechende Aufbauzertifikate ein. Nur die Aufbauzertifikate sind wirklich in der Lage, Ihnen praktische Erfahrung zu attestieren.

Darüber hinaus sollten Sie auf eine Prüfung mit Aufsicht bestehen und nur Zertifikate wählen, bei denen die Verantwortung für Inhalte, Schulung und Prüfung klar getrennt ist.

Außerdem sollten Sie sich bei der Recherche nach dem passenden Schulungsanbieter nicht von hübschen Broschüren und Äußerlichkeiten täuschen lassen. Versuchen Sie sich ein Bild zu machen, ob die Ihnen angebotenen Schulungsleiter den Hauptteil Ihrer Zeit in Projekten in der Praxis verbringen – also ihr Geld nur gelegentlich mit Schulungen verdienen. Haben Sie einen solchen Schulungsanbieter gefunden, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel größer, dass Sie nicht nur mit einem Zertifikat, sondern tatsächlich mit praxistauglichen Ratschlägen aus der Schulung zurückkehren.

Wir hoffen, dass Sie, mit diesem Wissen ausgestattet, in der Lage sind, die Qualität der am Markt angebotenen Zertifikate einzuschätzen und die für sich passende Weiterbildung zu identifizieren.

[FGG10] Fahl, W.; Ghadir, P.; Gharbi, M.: Vom Sinn und Unsinn einer Zertifizierung für Softwarearchitekten – CPSA‑F: Ein gemeinsamer Nenner für Softwarearchitekten; Sonderdruck OBJEKTspektrum 11/2010

[DST] Bei den Prozessmodellen handelt es sich um Domainstories: www.domainstorytelling.org